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Text und Fotos Friedrich Klawiter
CIRCUS Arlette GRUSS  
Thionville, 25. April 2009

www.cirque-gruss.com
Die fünfundzwanzigste Tournee absolviert der Circus, den die Anfang 2006 verstorbene Arlette Gruss gründete und den nun ihr Sohn Gilbert leitet, in diesem Jahr. Seit Jahren werden in gleicher Reihung die gleichen siebenundzwanzig Städte bespielt. Von Mitte Januar bis Mitte Dezember verläuft die dreihundert Tage umfassende Tournee, die von einer rund vierwöchigen Sommerpause unterbrochen wird. Zwei bis vier Ausfalltage liegen zwischen den einzelnen Stationen.
Wir besuchten den Circus in Thionville, einer kleinen Stadt am Oberlauf der Mosel. Hier liegt der Circusplatz inmitten der Stadt. Der Raum für die Zeltanlagen ist begrenzt, auf die Zeltdächer über Kasse, Büros und Toiletten muss verzichtet werden, und für das neue große Chapiteau wurde die seit Jahren übliche Anordnung um neunzig Grad gedreht.

Damit sind wir denn auch schon mitten in dem Thema dieses Circus – das neue Chapiteau. Als 'Cathédrale' bezeichnet, nimmt seine Darstellung in allen Veröffentlichung des Circus breiten Raum ein. Groß, aufwändig, eindrucksvoll, modern, filigran, elegant, außergewöhnlich  - diese Adjektive kommen einem bei seinem Anblick sofort in den Sinn. Zehn Masten, zwei von elf Metern Höhe und acht zwanzig Meter hohe per Teleskop ausfahrbare, tragen das dreiundachtzig mal neunundvierzig Meter große  Konstrukt, dessen Kuppel eine Höhe von zweiundzwanzig Meter erreicht. In blendendem kalten weiß mit sparsamen roten Applikationen zeigt sich das Äußere. Im Innern des Palastes sind keine Neuerungen feststellbar, nur das weiße Segel über dem Orchester wurde weggelassen.
Drei Bereiche vereinigt dieses Zelt – Restauration, Spielzelt und technisch-logistischer Bereich – unter seinem Dach. Der Aufbau sei sehr aufwändig, lässt uns Pressesprecher Willy 's wissen, er dauert eineinhalb Tage. Rund fünfhundert Anker müssen in die Erde getrieben werden und mehr als 450 Rondellstangen von viereinhalb Metern Höhe sind aufzurichten, viele Kilometer Kabel werden ausgerollt und rund dreihundert Scheinwerfer sind zu installieren. Dreiundfünfzig Männer gehören zum Montageteam. Mit vielen weiteren beeindruckenden Zahlen warten Pressesprecher und -Mappe auf, doch wollen wir hier nicht mit zu viel Statistik langweilen.
Wie üblich bei Arlette Gruss, betritt man auch die 'Cathédrale' durch Holztüren. Der Vorzeltbereich wird, außer bei den kurzen Vier-Tage-Gastspielen, mit einem Holzboden ausgelegt. Sitzgelegenheiten gliedern die Fläche und auf Flachbildschirmen kann man in Filmsequenzen den Aufbau verfolgen. Die beiden Restaurationscontainer sind in die Zeltwand integriert, die Vor- und Spielzeltbereich trennt. Das Gradin wurde im vorderen Drittel um fünf Reihen erweitert, bietet nun rund eintausendfünfhundert Personen Platz. Für die Pariser Weihnachtsgalas lässt sich, wie bisher die Sitzplatzkapazität auf zweitausend erhöhen.

Ton- und Lichtregie sind nun in einem Container seitlich des Artisteneingangs untergebracht. Tritt man aus der Manege durch die Gardine, sieht man zunächst – gar nichts. Es gilt erst noch zwei schwarze Vorhänge zu überwinden, ehe man den „Sattelbereich“ erreicht. Hier ist schwarz die vorherrschende Farbe. Es wird alles getan, störendes Licht in Richtung Manege bei offener Gardine, zu verhindern. In diesem Teil des Chapiteaus gibt es sechs große Garderoben, aus schwarzer Zeltplane, für die Artisten. Die Größe des Bereichs ist so bemessen, dass auch die jeweiligen Tiergruppen problemlos auf ihren Auftritt warten können. Ein besonderes Gimmick sind die Zuleitungen der äußeren Illumination der 'Cathédrale', die in die Zeltplanen integriert wurden. Nach einem Rundgang durch diese Anlage  bleibt nur ein Fazit – perfekt. Eine Steigerung von Optik, Funktionalität und Komfort scheint aus heutiger Sicht für ein Nachfolgemodell nicht mehr möglich.

Nach so viel Betrachtungen zur neuen 'Cathédrale' – ja 'Circus' gab es auch noch zu sehen. Seit Jahren folgen die Programme bewährten Mustern. Jährlich wechseln die Artisten, der Stil sie zu präsentieren bleibt gleich. Außergewöhnliche, bizarre Kostüme, ähnlich in Stil und Farben, geben den Shows ein durchgängig gleichbleibendes Erscheinungsbild und werden jedes Jahr für die komplette Crew angefertigt. Für die musikalische Begleitung zeichnet Germain Bourque verantwortlich. Die Besetzung des neunköpfigen Orchesters ist ausgefallen. Drei Streicher, zwei Schlagzeuger und ein klanglich hervortretendes 'Klavier' erzeugen einen eigenwilligen, für Circusmusik, ungewohnten Sound. In dieser Spielzeit kommt die Musik recht eintönig daher und entsprechend verhalten zeigen sich die Publikumsreaktionen während des Programms. Mitgehen und begeisterten Applaus gibt es nur zu Beginn des Finales, als die Musik, endlich einmal, schwungvoll fetzig wird.

Das Spektakel beginnt mit einer kleinen Enttäuschung. Von dem Ballon, dem omnipräsenten Symbol des Programms „La Cité du Cirque“ ist nichts zu sehen. Dies wurde in den vergangenen Jahren bei den Programmen 'Delires', 'Mirages' und ganz besonders der Dame im roten Kleid bei 'Pile ou Face' anders gehandelt.
Zum Opening erscheinen die Artisten nach und nach im Trainingsanzug in der Manege, demonstrieren 'Auftrittsvorbereitungen', nach einer Tanzszene und dem Defilee der Exoten hebt sich die Plattform in der Bühnenmitte mit der neuen Moderatorin Samira empor und nach deren Begrüßungsrede sind die beiden jungen Frauen und elf Männer der Troupe Wuqiao die ersten in der Manege.
Eine flotte, perfekt choreographierte Melange mehrerer Jonglage-Disziplinen füllt den Raum. Die beiden jungen Frauen arbeiten Antipoden während um sie herum die Männer als Vasenjongleure agieren. Zudem zeigen sie ihr Können mit Meteoren. Auch die beiden weiteren Auftritte der jungen Chinesen sind an exponierten Stellen des Programms platziert. Vor der Pause erleben wir eine rasante Folge ausgefallener Tricks, die ausschließlich auf 'Nurrädern' ausgeführt werden. Zum Finale dann eine der derzeit aktuellen Lassonummern. Die Trickfolge gleich der anderer Truppen. Leider misslingt der Schlusstrick – die Pyramide zum Drei-Mann-Hoch stürzt bereits beim Aufbau ein. In keiner ihrer drei Nummern wiederholen die Chinesen einen misslungenen Trick und so endet ihr letzter Auftritt ziemlich abrupt. Trotz guter Leistungen springt 'der Funke' nicht aufs Publikum über, bleibt der Beifall verhalten freundlich.
Auch in seiner zweiten Saison bei Arlette Gruss präsentiert Sandro Montez wieder den hauseigenen Exotenzug sowie vier Elefanten, die vom American Circus der Tognis kommen.   Schön anzusehen ist die Elefantendressur und die  Figurantinnen mit ihrem exquisiten Kopfputz geben der Nummer den letzten Schliff. Der Exotenzug wurde in seinem Ablauf gegenüber dem Vorjahr variiert. Neu und außergewöhnlich der Trick, zu dem ein großer afrikanischer Strauss unter Kamelen durchläuft, die mit den Vorderfüßen auf der Piste stehen.
Laura-Maria und Linda Gruss präsentieren die Freiheitspferde. Zunächst lässt Laura-Maria ein Pony diverse Figuren durch vier große Ringe laufen. Anschließend dirigiert ihre Mutter Linda Biasini-Gruss zwölf Schimmel der Tognis. Auf dem ungewohnten Bühnenboden bewegen sich die Pferde ziemlich verhalten und vorsichtig. Mit Da Capo Steigern beenden Mutter und Tochter die Vorführungen.

Einen ungewöhnlichen Ablauf zeigt die Taubendarbietung von Andrejs Fjodorovs. Unter anderem werden kleine Hürden übersprungen, über eine Stange balanciert. Der Aufbau der Nummer hat keine Ähnlichkeit mit den sonst üblichen Taubenrevuen.
Den zweiten Programmteil eröffnen die sieben Tiger von Redi Christiani. Routiniert wie stets die Präsentation, allein es dürften ein paar Tricks mehr gezeigt werden.

Höchst selten sind Männer mit Hula Hoop in der Manege zu sehen. Anton Monastyrsky hat dieses Genre gewählt und interpretiert das Spiel mit den Ringen, sehr elegant, athletischer als seine weiblichen Kollegen.
Wieder einmal ist Mathieu für den Humor zuständig bei Arlette Gruss. In normalem Alltagsdress -Jeans und T-Shirt- hebt er sich optisch deutlich vom übrigen Ensemble ab. Vier Stühle, Golfball und Filmszene, mit diesen allzuoft gespielten Szenen bemüht er sich um Lacherfolge.
Peter Balder, Stiefsohn von Sandro Montez, ist nun erstmals mit einer eigenen Nummer in der Manege zu sehen. Als Postmann hat er so seine „Probleme“ mit einem großen Hund. Ein wenig bemüht wirkt die Hundekommödie, die sich recht eng an bekannten Vorbildern orientiert.

Die Disziplinen der Luftartisten sind in dieser Spielzeit relativ unterrepräsentiert in der neuen chicen 'Cathédrale' deren weite Kuppel vier Meter mehr an Höhe misst, als das vorherige Chapiteau. Beide Luftnummern sind hauseigene Produktionen. Zunächst fliegt Kevin Gruss zusammen mit seiner Lebenspartnerin Julia Friedrich an Strapaten. Die exzellente Lichtanlage und das Orchester unterstützen den Verkauf vorbildlich. Die zweite Darbietung in der Kuppel sieht Linda Biasini-Gruss und ihre Schwester Marisa als Hauptakteure. An zwei glockenähnlichen Metallgebilden zeigen sie ihre Tricks, während die Chinesen in weißen Phantasiekostümen in der Manege den Background bilden.

Im vergangenen Jahr war Zdenek Supka mit Pinder auf Tournee, nun zeigt der Bodenjongleur seine Arbeit mit kleinen weißen Bällen in diesem Circus. Für die allermeisten Zuschauer wird es kein Wiedersehen sein, da es außer Bordeaux und Paris keine gemeinsamen Gastspielstädte der beiden Circusse gibt.
„The Crossroad“ nennt sich ein ukrainisches Bruderpaar, deren Namen als einzige nicht im Programmheft vermerkt sind. Sie spannen ihre Schlappseile im rechten Winkel übereinander und agieren während des kompletten Auftritts mit schwarzen Binden vor den Augen. Unglaublich ihre Koordinationsfähigkeit und Trickfolge, so sie denn wirklich nichts sehen. Die Zuschauer jedenfalls sehen bei diesem Auftritt nur sehr wenig, da die beiden schwarz gekleideten Artisten in der nur schwach erhellten Manege kaum auszumachen sind.
Das Finale schließt sich nahtlos an die Lassonummer der Chinesen an. Kaum haben diese ihren Absturz hinter sich, kommen die übrigen Artisten in exakt den gleichen Kostümen wie sie von den Lassokünstlern getragen werden dazu. Nur Mathieu und die beiden Tierlehrer Redi Christiani und Sandro Montez tragen, warum auch immer, ihre 'normalen' Kostüme. Das Finale an sich ist kurz, die Moderatorin verabschiedet sich wortreich und der Schlussapplaus bleibt relativ verhalten. Standing Ovations gibt es keine in diesem Jahr, in dem die Spielfolge ohne herausragenden Höhepunkt, ohne 'Aha-Effekt' blieb und das neue Chapiteau der Star ist.