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Text und Fotos Friedrich Klawiter
GINA GIOVANNIS  
Thun, 04. April 2009
Die hoch ausfahrbare Stange hat sich in die Grundposition auf dem Requisit gesenkt. Die Artistin hat ihre Position in der Handstandwaage aufgelöst, macht ein letztes Kompliment und nach rund sieben Minuten, die sie auf ihren Händen zubrachte steht Gina Giovannis wieder mit beiden Füßen auf der Erde. In diesem Jahr sehen wir die erfahrene Artistin wieder einmal im Schweizer Circus Royal mit ihrer zum zweiten Mal total erneuerten Handstandkür.
Handstand, das ist ihr Leben, seit sie sieben Jahre alt ist. Da hatte sie ihren ersten Auftritt als 'Little Gina Giovannis' im Berliner Urania Varieté. „Und dass bin ich dann viele Jahre geblieben“ sagt sie mit einem Lächeln, als wir uns in ihrem gemütlichen großen amerikanischen Camping unterhalten. Sie ist ein echtes Circuskind, geboren im flämischen Gent. Ihr Großvater mütterlicherseits war Direktor des renommierten Circus 'De Rycke – Semay', der bis Mitte der fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts in Belgien reiste.
Von klein auf hat sie die Handstandarbeit interessiert. Ihr Vater, ein bekannter italienischer Equilibrist, hat sie trainiert, ihr sein Wissen und Können weitergegeben. Eine trickstarke Darbietung wurde erarbeitet. Kraftvoll und sehr elegant die Ausführung. In vielen großen Manegen in Europa hat Gina Giovannis mit dieser Arbeit die Menschen begeistert.

Die Frage nach 'Lieblingsengagements' wird mit der Nennung vieler Circusnamen beantwortet und fördert so etwas wie das 'who is who' der europäischen Circusse zu Tage. Im Krone-Bau war sie, genauso wie in vielen skandinavischen Circussen, bei Royal in der Schweiz und Pinder in Frankreich, bei Williams-Althoff sah man sie und auch bei Romanza. Hier war sie die erste Trainerin von Maik und René Sperlich, die heute als Mairen Brothers bei Charles Knie auftreten. Ihr erstes Engagement allein, ohne die Familie erfolgte 1990-91 im Circus Barum.
Oftmals wurde Gina Giovannis als die „belgische Handstandkönigin“ im Programm annonciert. „Dabei habe ich doch in meinem Heimatland so gut wie nie gearbeitet.“ entgegnet sie mit einem Lachen, „ jetzt in diesem Winter habe ich Galas im Witte Paard gehabt.“ Das 'Weiße Pferd', wie es auf deutsch heißt, in Blankenberge nennt sich heute 'Partyzentrum' bietet Shows und vielerlei Veranstaltungen.
Ihre Mutter arbeitete auf dem Drahtseil und zunächst erlernte ihre Schwester dieses Genre. Als die Mutter ein wenig älter, in jenen Jahren galt eine Frau von Anfang vierzig in der Manege als 'alt', war, hatte der Vater die Idee beide Schwestern gemeinsam auf dem Seil auftreten zu lassen. So lernte little Gina Seil laufen. „Seil laufen fiel mir immer sehr sehr leicht. Da war ich echt begabt, aber es hat mir nie wirklich Spaß gemacht“, erzählt sie,“als meine Schwester dann ausschied, hatte ich eine gute Zweitnummer und das ist bis heute so geblieben, aber Interesse hatte ich immer nur an Handstand“.

Nur sehr wenige Artisten gestalten dreimal eine neue Nummer während ihrer Karriere . Gina Giovannis hat dies getan. Wir sahen sie viele Jahre auf einem hohen Gestell mit angebauter Leiter agieren. Einarmer, Handstandwaagen, Kopfstand mit angelegten Armen und gestreckten geschlossenen Beinen, Aufbau von Klötzchentürmen, Treppenlauf auf den Händen und im Einarmer die Treppe hinab, dies waren die Markenzeichen ihrer Arbeit. Dann 2006 die Überraschung, als wir erstmals eine vollkommen 'neue' Gina Giovannis sahen. Ein ausgefallenes aufwändiges Requisit hatte sie sich bauen lassen. In Form und Optik eines überdimensionalen breitkrempigen spanischen Hutes, enthielt es viel Technik. Fünf Handstützen ließen sich motorisch daraus emporfahren, bzw. absenken. Natürlich war auch das Outfit entsprechend dazu gestaltet und die Nummer wurde 'auf spanisch' verkauft. Anstelle der Sprünge die Treppe hinab gab es nun Wechsel im Handstand von Stab zu Stab. Im letzten Jahr dann  nochmals ein totaler Wandel des Auftritts. Nun ist wieder ein gut zwei Meter hohes Gestell die Basis. Darauf werden die bekannten Tricks gezeigt. Ein Klötzchensturz ist nun Abschluss der Arbeit in 'normaler Höhe'. Dann folgen Handstand und Waage an einer hydraulisch hoch aus dem Podest ausfahrbaren Stange.

Die Karriere von Gina Giovannis kennt nicht nur Höhepunkte. Einige Mal war sie schwer verletzt, musste lange pausieren und hat sich mit viel Mühe, Ausdauer, Willen und großer Disziplin wieder auf ihr hohes Leistungsniveau gebracht. Nach einem Bruch des rechten Armes musste sie monatelang pausieren. Genauso nach einem Bänderabriss am Ellbogen. „Nach solch langen Verletzungspausen sind die Muskeln nicht mehr vorhanden, da fängt man wieder ganz von vorne bei Null an. Da ist erst ganz schlichtes Kraft- und Aufbautraining angesagt. Dann muss Balancegefühl und Koordination wiederkommen, Sicherheit und Vertrauen in das eigene Können wieder entstehen“.

Vor vierzehn Jahren kam Sohn Louis, seit er in die Schule geht lebt er bei den Großeltern in Gent und kommt nur in den Ferien zum Circus, zur Welt. Da hat sie nur zehn Wochen pausiert. Im Januar letzten Jahres kam es wieder zu einem Armbruch. Beim verladen stürzte das Requisit um und schlug ihr auf den Unterarm, der unter dem Gewicht von ein paar hundert Kilo Metall brach. Wieder waren einige Wochen Pause angesagt und mit einiger Verspätung trat Gina Giovannis ihr Engagement bei Pinder an. Noch hat sie eine Metallplatte und Schrauben im Arm, aber „wenn ich mal Zeit habe, müssen die raus“.

An vielen Festivals hat Gina Giovannis teilgenommen und oft ist ihre Arbeit ausgezeichnet worden. Zuletzt 2008 beim Festival von Dax hat sie einen Preis bekommen. Auf unsere Frage nach weiteren Auszeichnungen erhalten wir zur Antwort: „Die stehen zu Hause bei meiner Mutter. Soll ich die gerade mal anrufen und fragen, welche da alle dabei sind?“ Aber das ist dann doch nicht erforderlich. Die wichtigsten bekommen wir auch so zusammen. Beim Cirque de demain 1989 Bronze, in Monte Carlo 'Grand Dame du Cirque', bei der Circus Olympiade in Lüttich und später bei Stefan Agnesen' s European Circus Festival  gab es ebenfalls Hauptpreise.

Natürlich stellt sich auch die Frage nach dem, was nach der Karriere sein wird. Ein Haus, mit ein paar Wohnungen,  hat sie in Gent und hier möchte sie auch leben. In Gent lebt ihre Familie. „Nach so vielen Jahren, in denen ich immer alleine auf der Reise war, möchte ich endlich auch einmal Familienleben genießen. Eine Verbindung zum Circus wird immer bleiben. Wenn ich nicht mehr reise, möchte ich, solange es gesundheitlich und leistungsmässig geht, gerne noch ein paar Galas machen“.