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Text Friedrich Klawiter
Pariser Weihnachtscircusse
Paris, 15. - 17. Dezember 2006


Paris im Dezember, eine pulsierende lebhafte und lebendige Metropole im Advent. Die Stadt der tausend Lichter glänzt und glitzert noch ein wenig mehr als sonst. Weihnachtsbeleuchtung und -schmuck in allen Straßen, Geschäften und Häusern, in Farb- und Formenvielfalt, mit Farb- und Lichtwechseln wie es in deutschen Städten nicht vorstellbar ist. Es quirlt der lebhafte Verkehr durch die Straßen voller Menschen. Weihnachtsstress und Kaufrausch bestimmen den Advent genauso wie andernorts und Papa Noel, so heißt der französische Weihnachtsmann, ist allgegenwärtig.

Trotz aller EU Angleichungsnormen gibt es immer noch traditionelle Unterschiede. Einer ist die Organisation französischer Firmen-Weihnachtsfeiern. Die Mitarbeiter werden mit ihren Familien dazu eingeladen. Sie erhalten ein festliches Diner, die Kinder bekommen ein Geschenk, die Mitarbeiter eine Gratifikation, Prämie o. ä. und anschließend wird gemeinsam dem gebuchten Programm beigewohnt. Oft ist dies ein Circusbesuch, da Circus in der franz. Gesellschaft einen kulturell anderen Stellenwert genießt, als Circus bei uns. Vor diesem Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass zur Vorweihnachtszeit zeitweise mehr als ein Dutzend Circusse gleichzeitig in Paris aufspielen. Ein Wochenendtrip zu dieser Zeit ist der Himmel auf Erden für Circusverrückte und eine Härteprüfung für mitreisende Ehefrauen. Sehen wir einfach einmal, was der circusinteressierte Parisreisende an einem ganz normalen Freitag im Advent erleben kann.


Es ist 11:00 Uhr, als wir nach viereinhalbstündiger Anfahrt und schnellem Check in  aus unserem, auch nach strategischen Gesichtspunkten gewählten, Hotel aufbrechen. Es liegt unmittelbar an einer Auffahrt zur Périphérique, der 35 km langen Ringautobahn die Paris umschließt und die Grenze zu den Vorstädten bildet. Drei Autobahnstationen entfernt im Südosten der Neun-Millionen-Metropole ist der “Bois de Vincennes” gelegen. Dieser zweite Pariser Stadtwald ist ein weitläufiges Areal für Freizeitaktivitäten, der auch den Pariser Zoo beheimatet. Am westlichen Ende in Charenton liegt die Pelouse de Reuilly, ein Festplatz von immensen Ausmaßen. Auf der linken Hälfte hat sich Pinder etabliert. Die rot/gelben Hausfarben bilden einen reizvollen Kontrast zum “weihnachtlichen” Grün der hohen Kiefern, die den Platz im hinteren Bereich säumen. Hinter der Fassade und der anschließenden lang gestreckten Vorzeltkonstruktion erhebt sich ein gigantischer Sechsmaster, der reichlich 5000 Besuchern Platz bietet. Dieses seit 2000 genutzte Chapiteau wird nur auf diesem Platz errichtet. Seine Höhe ist so, dass Crazy Wilson bei seiner Arbeit vom darüber hängenden Flugtrapez-Apparat nicht behindert wird. Stallungen und Wohnwagen komplettieren diesen Teil des Pinderareals. Es schließen sich zwei große Chapiteaus, in denen die Saisongastspiele absolviert werden, an. In diesen erhalten die Galagäste ihre Diners. Pinderfahrzeuge in sonst nie gesehener Anzahl runden das Bild ab.

In Fassade und Vorzeltbereich werden einige der historischen Fahrzeuge der Aera Spiessert präsentiert. Der gesamte Boden im Vorzelt und Chapiteau ist komplett mit rotem Teppichboden ausgelegt. Alle Gänge unter dem Gradin sind ringsum mit rotem Stoff verkleidet. Hinter den vierreihigen Logen und breitem Gang ist das einundzwanzigreihige Gradin teilweise mit Schalensitzen ausgestattet. Eine fantastische, nur in Paris installierte, Lichtanlage verzaubert mit rund 250 Scheinwerfern und Scannern das Programm. Paris wird nur zu Weihnachten, dieses Jahr von 11. November bis 14. Januar, bespielt. So zeigt man das jeweilige Saisonprogramm, dass durch eine Elefantendarbietung ergänzt wird. Ronald Spindler mit seinen drei Dickhäutern ist heuer zum zweiten Mal, nach Hardy Weisheit, dabei.

Die rechte Seite der Pelouse de Reuilly gehört Arlette Gruss. Prächtig anzusehen, wie immer, sind auch hier “Galazelte” hinzugekommen. Die Zuschauerkapazität des Chapiteaus wird mit einem kleinen Kniff erhöht. Das Zelt, mit höheren Masten und Rondellstangen ausgestattet, erhält so einige zusätzliche Gradinreihen über dem während der Saison, mit einem Vorhang abgetrennten, Gang. Auch bei Arlette Gruss ist Paris die letzte Saisonstadt. Den hinteren Teil des Festplatzes belegt Cirque Phenix. Ein “Agenturcircus” der in Paris im Chapiteau, sowie bis Ende Februar in verschiedenen Städten in Hallen gastiert. In einem riesigen Festzelt sind Eingangsbereich und Restauration sowie die beiden Kassenschalter untergebracht. Komplett mit rotem Teppichboden, die Seiten und Decken komplett mit Stoff, ausgekleidet wähnt man sich eher in einem Theaterfoyer denn in einem Circuszelt. Die Anzahl der Dinerzelte und Hinweisschilder an den Eingängen belegen, dass die überwiegende Anzahl der jährlich rund 400.000 Besucher auf Grund von komplett gebuchten Arrangements den Circus besucht. Das rechteckige Chapiteau, eine für europäische Circusse ungewöhnliche Konstruktion wird von sechs mächtigen außenliegenden Gitterbögen überspannt. Die daran aufgehängte Zeltplane, kommt im Innern vollkommen ohne Masten und Stangen aus. Je nach Ausstattung finden bis zu neuntausend Besucher Platz in 7 Logenreihen und Gradin. Eine kleine Stufe in dem Logenpodest verheißt nicht unbedingt beste Sichtbedingungen in den hinteren Reihen, bewirkt aber, dass die beiden ersten Gradinreihen tiefer als die Logen liegen. Die Manege ist in ein Podium von ca 28 x 18 m eingelassen. Nach einem “Moskauer Circus auf Eis” in 2004 und dem chinesischen Programm der vergangenen Spielzeit präsentiert man nun unter dem Titel “Jubilee” die Sterne des Circus von Moskau. Duett Blue, Oleg Izossimov und die Truppe Iriston sind auch aus deutschen Manegen wohlbekannt. Ein artistisch außergewöhnlich starkes Programm wird im Finale vom einzigartigen Können von Alexandr Yenijatov als Elastic Icon gekrönt. Hervorragendes Licht und inspirierte Lifemusik geben der Show den letzten Schliff und lassen den Besuch im ausverkauften Riesenchapiteau zu einem ganz besonderen Erlebnis werden. Nach einem Mittagessen in unmittelbarer Nähe des Circusplatzes fahren wir auf der Périphérique in den Nordosten. Die Heimat des “Theatro Equestre Zingaro“, direkt an einem großen Boulevard in einer etwas dubiosen Gegend gelegen, gleicht einem Hochsicherheitstrakt. An der Sprechanlage des massiven, versperrten Tores am Haupteingang werden wir kurz und knapp beschieden, dass es erst wieder nach Weihnachten eine Chance auf Eintrittskarten gibt. So können wir nur an zwei Seiten des Geländes den Zaun entlang wandern und die hölzernen Circusgebäude sowie einige Fahrzeuge aus der Ferne bestaunen.

Nur eine Autobahnstation weiter, ebenfalls in Aubervilliers ist unmittelbar am Kreisverkehr der Ausfahrt der Circus Diana Moreno Borman seit mehr als zehn Jahren fest installiert. Massiv umzäunt, am Rande eines ziemlich heruntergekommenen Gewerbegebietes gelegen, ist das Gelände klein und eng und die ganze Umgebung wirkt wenig einladend. Die Hausfarben, lila und weiß finden sich auf Zelten und Wagen wieder. Die Gestaltung von Chapiteau, Zäunen, Laternen und Dekoration erinnert an Roncalli und Il Florilegio. Das Zeltinnere mit seinen verzierten Logen, 6-reihigem Schalensitz-Gradin und Balkonlogen, sowie dem schön gestalteten Artisteneingang, verbreitet eine ansprechende und stimmungsvoll Atmosphäre.
Das Programm wird gänzlich von der Familie bestritten und beginnt mit der sehr guten hauseigenen Tigerdressur. Elefanten und ein großer Exotenzug sind weitere Highlights, die in einem Familiencircus nicht unbedingt zu erwarten sind. Alle Nummern sind choreographiert, erzählen eine Geschichte. Bemerkenswert die Musikauswahl zu den Darbietungen. Die Vorliebe zu monumental-bombastischen hoch dramatischen Klängen unverkennbar.
Im dichten Verkehr geht es in westlicher Richtung voran. Im vergangenen Jahr noch auf der Pelouse de Reuilly, ist der kleine Cirque Tsigane von Délia und Alexandre Romanès in dieser Spielzeit an den Boulevard de Reims, am nördlichen Stadtrand, umgesiedelt. Ein kleines rot/grünes Kioskzelt, ohne Maste und Stangen, mit Rondellwänden aus groben Holzplanken ist die Spielstätte. Grün/rot ist auch das Dutzend der umherstehenden Campings gestrichen. Die wenigen Tiere, Lama, Pony, Ziegen, waren einfach angepflockt. Das Programm ist zu einem folkloristisch anmutenden Zigeunerfest durchgängig gestaltet. Lifemusik eines typischen Zigeunerorchesters mit Geigenklang, Tanz und Gesang. Lagerfeuer-Romantik bildet den Rahmen zu Seiltanz, Luftnummern und Jonglagen sowie den anderen Darbietungen eines Familiencircus.
An der Porte Maillot, einem riesigen Verkehrsknotenpunkt biegen wir in den Bois de Bologne ab. Dieser ausgedehnte Stadtwald beheimatet, neben Pferderennbahn und vielfältigen anderen Vergnügungsmöglichkeiten, an seinem nördlichen Rand den “Jardin d’ Acclimation”, einen kleinen “Kinder-Freizeitpark”, zu dessen Attraktionen auch der Circus Phenix jun. zählt. Dessen Chapiteau ist dem großen gleich in der Konstruktion, nur dass es einem Zweimaster entspricht. Das Gradin, komplett Schalensitze, fasst ca. 1000 Zuschauer. Die Show, ohne Tierdarbietungen dauert ca. eine Stunde und ist eher theatermäßig, mit vorzüglichem Licht und Tonbandmusik, inszeniert.


Inmitten des Bois de Bologne finden wir die Pelouse de Passy. Auf der Lichtung im Kiefernwald sind dieses Mal drei Circusse zu sehen. Alexis Gruss gastiert hier seit vielen Jahren von Oktober bis Februar mit seinen kunstvoll gestalteten, mit vielfältigen Pferdedarbietungen angereicherten Programmen. Die sehr zahlreichen hellblauen Sattelzüge, das große weiße Chapiteau mit Vorzelt sowie Stallungen und Dinerzelte füllen diesen Teil der Lichtung aus. Nur wenige Meter weiter, durch Gebüsch getrennt, finden wir zwei weitere Circusse direkt nebeneinander. Heftige Regenfälle geben dem Slogan “Circus unter Wasser” eine ganz neue Bedeutung und wir befürchten fast zu den beiden Chapiteaus schwimmen zu müssen. Zuerst geht es zum Cirque Messidor. Dieser Agenturcircus präsentiert nun im zweiten Jahr den “Cirque National en Laponie”, also den Nationalcircus aus Lappland. Chapiteau und übriges Equipment werden angemietet. In dieser Spielzeit ist ein innen und außen silbergraues 2-Masten-Chapiteau von etwa 40 m Durchmesser aufgebaut. Nur vier Quaterpools stützen die Zeltbahn über dem komplett mit Schalensitzen bestücken Gradin. “Treffen Sie Elfen, Zwerge und andere feenhafte Wesen und die anderen fantastischen Sagenfiguren des Nordens…..” beginnt die Werbebotschaft dieser Show, doch leider präsentiert man sich sehr phantasie- schmuck- und lieblos. Ohne Vorzelt und Restauration, keinerlei Dekoration im Chapiteau, keine Logen - die Klappstühle stehen verloren im Raum, eine schlichte Stoffbahn als Artisteneingang. Das Zelt hat keine Atmosphäre, es wirkt leer kalt und unpersönlich. Das ordentliche Programm wird so deutlich unter Wert verkauft. Einziger Bezug zu Lappland sind die beiden Rentiere, die zweimal während Umbauten um die Manege geführt werden.

Neu auf diesem Gelände ist “Passion Cirque”, der Circus Christiane Bouglione. Bisher war man auf einer kleinen Grünfläche an der Porte Maillot angesiedelt und hat sich nun hierher verändert. Der nostalgische Frontzaun, die Logen und der geschmackvolle Artisteneingang erinnern an Roncalli. Der kleine Viermaster, mit Logen und 6-reihigem Gradin restlos ausgefüllt, bietet 800 - 900 Personen Platz. Man engagiert jährlich ein erstklassiges Programm für die Weihnachtsgalas, das neben Newcomern auch immer große etablierte Namen aufzuweisen hat. Ein eleganter “Monsieur Loyal”, hervorragendes Licht und stilvolle Inszenierung werden dem Namen Bouglione vollauf gerecht. Die anheimelnde Atmosphäre, so stellt man sich Weihnachtscircus vor, in Verbindung mit dem Gebotenen lassen einen Besuch hier immer wieder zu einem Erlebnis werden.
Im Nordwesten der Hauptstadt, etwa 10 Km von der Porte Passy in der Vorstadt Chatou, findet man die Seineinsel “Ile des Impressionistes”. Hier gibt sich der Circus Joseph Bouglione die Ehre. An diesem Spätnachmittag war man noch mitten im Aufbau für die Premiere am nächsten Tag. Das neue große ovale Zelt, mit vier Masten in einer Reihe, wurde allerdings nur als runder Zweimaster errichtet. Eine eingehende Beschreibung dieses Circus findet sich an anderer Stelle auf circus-online.de.


Nun geht es zurück ins Zentrum von Paris. Über die Avenue de la Grande Armee und den Place d’ Etoile kämpfen wir uns durch den dichten und hektischen Feierabendverkehr vorwärts. Die Champs Elysees hinunter durch eine Reihe weiterer prächtiger und hektischer Boulevards gelangen wir zur Rue Amelot. Hier, nur 2 Gehminuten vom Place de la Republique entfernt - also inmitten der Pariser City - stehen wir vor dem Cirque d’ Hiver. Vor mehr als 150 Jahren als Cirque Napoleon erbaut, steht dieser großartige klassizistische Rundbau aus einer längst vergangenen Epoche eng eingepresst in die seit vielen Jahrzehnten unveränderte Bausubstanz der City.
Lässt sich im hellen Tageslicht deutlich Renovierungsbedarf an den Fassaden erkennen, ist die Wirkung im Schein der Lampen noch immer prachtvoll. Das unscheinbare Foyer von der Größe eines durchschnittlichen Reihenhauswohnzimmers beherbergt nur die beiden Kassenschalter. Von hier erreicht man über einen rund ums Gebäude führenden Gang die ein wenig abenteuerlichen uralten Holztreppen. Keine Stufe gleich zur vorhergehenden, die Handläufe viel zu tief angebracht, gelangt man zu den auf drei hölzernen Galerien angeordneten Sitzen. Alle Gedanken an Brandschutz, Feuer, Sicherheitsmaßnahmen und Massenpanik sollten tunlichst verdrängt werden. Schnell wird einem bewusst, dass die Menschen früher im Durchschnitt von geringerer Körpergröße waren. Besucher von mehr als 175 cm Körpergröße haben ziemliche Probleme ihre Beine unterzubringen und über die Länge einer Vorstellung eine angenehme Sitzposition einzunehmen. Leider gibt es keine Garderobe und je weiter oben man seinen Platz hat, umso mehr wähnt man sich in einer Sauna. Die extrem steile und sehr hohe Anordnung der Ränge, die oberste Reihe entsprechend dem dritten Stockwerk eines Wohnhauses, garantiert von jedem Platz eine Supersicht auf das Geschehen.


Alle Unannehmlichkeiten sind vergessen und spielen absolut keine Rolle mehr, wenn Kapellmeister Toni Bario den Taktstock zur Ouvertüre hebt. Das vierzehnköpfige Orchester ist von einer Güte, wie ansonsten in keinem Circus vorzufinden. Das zweite überragende Element, und mit Worten kaum zu beschreiben, ist das Licht. Lightshow und Beleuchtungseffekte sind unzureichende Ausdrücke um den Ideenreichtum und die Vielfalt des Gebotenen darzulegen. Musik und Licht haben in diesem Circus einen außergewöhnlichen Anteil daran, dass die Programme begeistern. Sie machen aus guten Nummern hervorragende und aus hervorragenden einmalige Weltdarbietungen. Eine Restauration gibt es nur in der Pause und nach der Vorstellung in der Bar des Cirque d’ Hiver. Diese, in der rechten Hälfte des ehemaligen Pferdestalles, unmittelbar am Sattelgang gelegen, wurde in creme und rot und mit vielen Goldapplikationen im Stil der Belle Epoche renoviert.
Ein großes Gemälde an der Kopfwand beherrscht, die Brüder Bouglione darstellend, den Raum. Die linke Stallseite beinhaltet noch einige alte, renovierte Pferdeboxen. Die Wände sind mit vielen alten großformatigen Plakaten geschmückt. Hier werden die Requisiten der aktuellen Show aufbewahrt.

Es ist nun gegen 18 Uhr, wir sind rund 65 Km durch Paris gefahren und haben im Verlauf dieser Stunden 10 der derzeit 14 hier gastierenden Circusse aufgesucht. In zweieinhalb Stunden beginnt die Abendvorstellung und es wird höchste Zeit im stärksten Verkehr zur Pelouse de Reuilly zu starten, damit wir rechtzeitig zum ersten der Programme, für die wir uns dieses Mal entschieden haben, eintreffen. Am folgenden Samstag werden drei Vorstellungen, um 14, 17 und 21 Uhr, folgen. Nachdem der Sonntag Vormittag in der Pinder Tierschau verbracht wurde, traten wir die Heimreise an.