Text und Fotos Friedrich Klawiter
Interview mit Holger Fischer
Koblenz, 05. Juni 2013

Seit mehr als zehn Jahren ist Holger Fischer als Geschäftsführer  mit dem Circus Universal Renz auf Tournee. Während des Gastspiels in Koblenz stand er Circus-online für ein Interview an seinem Arbeitsplatz zur Verfügung.
Circus-online:
Herr Fischer, Sie kommen aus der bürgerlichen Welt als Quereinsteiger zum Circus. Dürfen wir Sie um eine kurze Darstellung Ihrer Vita bitten.
Holger Fischer: Ich bin in Bielefeld geboren und aufgewachsen, dort zur Schule gegangen und Abitur gemacht. Ich habe in Bielefeld und in Berlin Soziologie und Erziehungswissenschaft studiert.
Circus-online: Wie kamen Sie zum Circus? Haben Sie sich einen Kindheitstraum erfüllt?
Holger Fischer: Nein, ich hatte nie einen Bezug zum Circus. Natürlich gab es in der Kindheit die obligatorischen Circusbesuche mit dem Großvater. Als Jugendlicher ließ das Interesse an dem Metier rapide nach und Circus war einfach nur uncool. Andere Dinge, wie z. B. die linke Hausbesetzer-Szene, Chaos und Zerstörung, etc., waren viel interessanter und angesagt. Schon während des Studiums hatte ich in der Tourismusbranche, beim Marktführer im Spezialsegment Junges Reisen im Bereich Produktentwicklung, zu arbeiten begonnen. Nach zehn Jahren Studium und Tourismus wollte ich eine Veränderung. Der Begriff „Burn out“ war noch nicht erfunden, man machte ein „Sabbatjahr“ und es war chic zur Selbstfindung nach Indien zu gehen und Buddhist zu werden. Die meisten Exkommilitonen taten dies schon nach fünf Berufsjahren und mir erschien es nun auch höchste Zeit dafür. Ein Bekannter, dem ich von meinem Vorhaben erzählte, brachte den Circus, er hatte Kontakte zu Fliegenpilz, ins Gespräch.
Ich hatte schon ewig keinen Circus mehr gesehen und wunderte mich, dass es überhaupt noch welche gab. In meiner romantischen Phantasie war Circus eine große Familie, die sich abends um ein Lagerfeuer versammelt – eine Art zweites „Indien“, noch dazu mit dem großen Vorteil während des Ausstiegs auch noch Geld verdienen zu können.
Ein Jahr, so war es mit dem Arbeitgeber abgestimmt, sollte das Abenteuer dauern, dann wollte ich meinen Job wieder aufnehmen. Also habe ich mich kurzerhand bei Bodo Hölscher vorgestellt und fand mich umgehend im Bürowagen wieder.
Das Abenteuer sagte mir zu und aus dem einen Jahr wurden zwei, dann kam der Wechsel zum Circus Probst, wo ich weitere zwei Jahre verbrachte. Es ergab sich die Möglichkeit zum Circus Universal Renz zu wechseln, der Drang zurück in das alte Leben war nicht sehr ausgeprägt und so bin ich mittlerweile im vierzehnten Jahr mit dem Circus unterwegs.
Circus-online: Sie haben in mehreren Circussen in ähnlicher Position gearbeitet. Unterscheiden sich die Unternehmen in ihren Strukturen?
Holger Fischer: Zunächst sind viele Abläufe und auch Probleme sehr ähnlich, wenn nicht gar gleich gelagert – innerhalb einer Branche durchaus üblich. Auf der anderen Seite ist es so, dass die Inhaber ihre Unternehmen und das Produkt sehr stark prägen. Die verschiedenen Circusse sind so, wie ihre Besitzer – groß, chaotisch, provinziell, familiär usw. -  widerspiegeln deren Lebenssituationen, ihre Vorlieben und Vorstellungen. Was sich stärker unterscheidet, sind die Möglichkeiten das eigene Arbeitsfeld zu gestalten. Da reicht die Palette von genauest detaillierten Anweisungen  bis hin zu weitgehender freier Entscheidung und Eigenverantwortlichkeit. Dies ermöglicht natürlich eine erkennbare eigene Handschrift in diesem Bereich, einer der Gründe, dass ich nun schon lange in diesem Unternehmen arbeite.
Circus-online: Können Sie sich vorstellen im Circus auch in einer anderen Position als in der Administration tätig zu sein, z. B. als Regisseur im künstlerischen Bereich arbeiten?
Holger Fischer: Nein, in dieser Branche gibt es ohnehin zu viele semiprofessionelle „künstlerische Leiter“ und Regisseure. Natürlich erkenne ich, wenn eine Show entsteht oder ein Stil zu prägen ist, was anders, besser oder stimmiger zu machen wäre, aber mich deswegen gleich Regisseur nennen? Es gibt  genügend Regisseure in der Branche, deren gesamtes Wirken darin besteht, den Requisiteuren zu sagen wann sie wohin laufen müssen. Man soll sich in seiner Arbeit auf das konzentrieren, was man richtig und professionell kann.
Circus-online: Hat sich in den mehr als zehn Jahren, in denen Sie inzwischen für Pressearbeit und Außendarstellung von Circusunternehmen zuständig sind, viel verändert?
Holger Fischer: Nun, die Branche hat inzwischen ein massives Imageproblem, so dass man schon sagen kann, dass früher manches einfacher war. Betrachtet man den Bereich der Pressearbeit bei den Traditionalisten, ist heute vermehrt nicht mehr die Pressemappe des Unternehmens, sondern die der Tierrechtsorganisationen, die das Gastspiel  meist ja schon im Vorfeld begleiten, entscheidend.
Früher hat man sehr leicht irgendwelche umfangreichen Präsentationen, gerade mit Tieren, hinbekommen. Heute schauen die Medien mehrfach und ganz genau hin, ob sie überhaupt mit einem klassischen Circus zusammenarbeiten wollen. Die Unbedarftheit einfach das Produkt Circus in den Fokus der medialen Arbeit zu stellen -  Circus ist ein Unternehmen der Unterhaltungsbranche  und es geht darum, den Unterhaltungswert heraus zu stellen, damit täglich Menschen hierher kommen und sich gegen Zahlung eines Entgeltes bespaßen  lassen - tritt immer mehr in den Hintergrund. Durch das Imageproblem ist man überwiegend damit beschäftigt, gegen gewisse Kritiken anzugehen, sein Tun zu rechtfertigen, sich zu verteidigen. Man argumentiert nur noch, dass auf gesetzlicher Grundlage gehandelt wird, dass alles konzessioniert und genehmigt ist. Man ist immer mehr beschäftigt Vorwürfe ab zu wehren. Da fällt der eigentliche Sinn der Pressearbeit, die Möglichkeit das anzubringen, worum es eigentlich geht, immer mehr hinten runter. Wir arbeiten hier in einem für den Circus existenziell wichtigen Bereich. Wir verkaufen nun einmal kein lebensnotwendiges Produkt, wie z. B. eine Bäckerei. Wir bieten Freizeitvergnügen auf das man Spaß und Bock haben muss, soll Geld dafür ausgeben werden. Früher habe ich viele Aktionen gemacht um den Circus und die Show dem potentiellen Besucher nahe zu bringen, ob ich mich heute noch einmal mit einem Nilperd auf einen Marktplatz stellen würde – "Elsbeth" und ich waren ein Dreamteam – das wage ich zu bezweifeln.
Circus-online: Vor wenigen Tagen sagte uns Jemand von einem Circus „Noch vor wenigen Jahren haben ein paar Plakate in der Stadt und Gutscheine in Schulen verteilt, gereicht, dass Zelt voll zu machen. Heute bringt das keinen Erfolg mehr.“ Der Aufwand ist demnach heute größer?
Holger Fischer: Das hat sich erledigt. Der Kammerton, den die Branche insgesamt gerne anschlägt, ist Externe für den eigenen Misserfolg verantwortlich zu machen. Der Circus muss sich natürlich auch sagen lassen, das man zu wenig am eigenen Produkt gearbeitet hat und deswegen der Misserfolg auch zu Recht eingetreten ist.
Beschäftigt man sich nicht mit dem Kern seines Produkts, definiert keine Standards, lässt es schlechter werden, hat keine Budgets um Qualität zu engagieren, dann setzt dies natürlich eine Abwärtsspirale in Gang. Viele würden mich für diese Aussage am liebsten schlachten , aber das Produkt in den Fokus unternehmerischen Handelns zu stellen hat man bis heute nicht verstanden. Zudem mangelt es in weiten Bereichen an Servicequalität. Sich intensiv mit seinem Geschäft zu beschäftigen ist der Branche offensichtlich zuwider. Man scheitert nicht an „Tiere - ja oder nein“, sondern am Mangel des Produktes an sich.Vor diesem Hintergrund kann man getrost sagen, dass der Circus keine Entwicklung genommen hat. In einem auf BWL ausgerichteten Studium gehört zu den ersten und wichtigsten Grundsätzen die man lernt, dass ein schlechtes Produkt auch durch noch so aufwändige und gute Kampagnen nicht dauerhaft am Markt zu platzieren ist.
Circus-online: Seit kurzer Zeit reist der Circus Universal Renz nun in Cooperation mit einem anderen Circus-Konzept. Sieht man dies als Ergänzung oder als künftigen Weg, als Alternative zum klassischen Circus?
Holger Fischer: Das man sich hier im Hause mit diesem Thema beschäftigt, ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass die Zahlen, wie überall in der Branche, stagnieren. Darauf kann man in verschiedener Art reagieren -. zum einen versuchen mit noch mehr Rabatt-Aktionen zu pushen, oder sich mit immer einem anderen Standard zufrieden geben. Die dritte Möglichkeit ist, sich zu bewegen und Neues aus zu probieren. So verstehen wir diese Geschichte. Wir testen, ob ein solches Konzept funktionieren kann. Es wäre arrogant zu sagen, wir haben das Rezept für die Zukunft parat. Wir haben viele Jahre sehr erfolgreich mit dem Circus Universal Renz am Markt zugebracht und dies hier heißt nun nicht, das wir uns für alle Ewigkeiten vom angestammten Konzept abwenden werden. Unser Weihnachtscircus in Duisburg wird wieder in alt bewährter klassischer Weise veranstaltet, wie ja auch andere Horror-Veranstalter zu Weihnachten wieder auf traditionelle Konzepte setzen.
Circus-online: Sehen Sie die alternativen Trends im Circus, wie Horror, oder Afrika und Ähnliches eher als Nischenprodukt oder als zukunftsweisende Alternative?
Holger Fischer: Es hat in den vergangenen Jahren eine Bereinigung des Marktes von unrentablen Unternehmen gegeben und der Prozess dauert noch an. Es wird sowohl im klassischen Bereich, als auch in den – sagen wir – neuen Segmenten eine Ausdifferenzierung der Inhalte geben. Wir werden Vieles zu sehen bekommen, das differenzierteren Charakter bekommt. Davon wird manches funktionieren und anderes den Markt relativ schnell wieder verlassen. Das klassische Segment wird seine Daseinsberechtigung haben, große und gute Unternehmen werden ihre Chance haben. Nur wird das klassische Konzept nicht mehr das einzige sein, es werden sich wenige Traditionalisten mit einigen Vertretern anderer Konzepte den Markt teilen.
Natürlich beschränkt man sich mit einem Konzept, wie z. B. Horror-Circus im Verkehrskreis der möglichen Konsumenten. Andererseits arbeitet man so aber auch mit einem wesentlich reduzierteren Freikarten-Kontingenten und das Phänomen „Zelt voll – Kasse leer“ bleibt aus. Natürlich gilt es auch hier noch stärker an der Kommunikation nach außen und am Inhalt zu feilen, damit dieses Konzept stärker zum Mainstream wird, dies ist einfach wichtig. Als ich zum ersten Mal von Horror-Circus hörte, dachte ich eher, dass es mehr so in eine Art „Familien-Horror“ a la „Adams Family“ geht. Das eher die Sparte Freak bedient wird, hätte ich nie erwartet. Horror hat eine sehr große Bandbreite und ein dementsprechend differenziertes Publikum. Dies zu reflektieren ist die nächste Aufgabe.
Circus-online: Andere alternative Circus-Konzepte, wie z. B. Afrika hatten nur eine geringe Halbwertzeit. Denken Sie, dem Horror-Circus wird es ähnlich ergehen?
Holger Fischer: Das weiß ich nicht, dass kann ich nicht beurteilen. Tatsache ist, dass die Show Profil haben muss. Es darf nicht zu beliebig werden, einfach nur hinschreiben Horror und die Gesichter ein wenig schminken, dass ist zu wenig. Auf der anderen Seite dürfen wir nicht zu weit in Extremes abgleiten. Es muss schon klar werden, dass es letztlich Unterhaltung ist, die wir machen und mit der wir ein breiteres Publikum ansprechen möchten. Unsere Show heißt jetzt „Er will doch nur spielen“. Das sollen die Leute erkennen und wenn wir in zwei – drei Jahren wieder in der gleichen Stadt gastieren, dann soll man glauben können, dass wir zwar immer noch Horror-Circus machen, aber inhaltlich eine völlig andere Show bieten. Nehmen wir FlicFlac, dort wurde der Name des Show stets genauso stark transportiert wie der Circusnamen, so hat es gut funktioniert. Das verlangt ein wesentlich intensiveres auseinandersetzen mit der eigenen Show als im klassischen Bereich. Dann, aber auch nur dann hat das Thema Horror Aussicht über einen Zeitraum hinweg zu funktionieren und nicht wie z. B. Afrika Afrika sofort wieder zu verschwinden.
Circus-online: Wenn Sie einen eigenen Circus betreiben würden, wie würde der aussehen?
Holger Fischer: Das wird nie geschehen, das ist überhaupt nicht denkbar. Nicht dass ich keine Ideen und Vorstellungen hätte, aber an ein eigenes Geschäft verschwende ich keinen Gedanken.
Circus-online: Wie sehen Sie die künftige Entwicklung und die Chancen für die Unterhaltungsform Circus:
Holger Fischer: Kulturhistorisch gesehen hat der Circus  den Sprung vom Industriezeitalter ins Dienstleistungszeitalter nicht geschafft, so wie es früher Unternehmen vom Agrar- ins Industriezeitalter nicht geschafft haben. Circus hat noch immer den Charme des Industriezeitalters der 1950er und 1960er Jahre. Das ändert nichts daran, dass ich Begriffe wie „Zeitgeist“ ablehne und oftmals gerade Unternehmen, die sich trotzig manchen Trends verweigern, sehr erfolgreich sein können. Dies ändert aber nichts daran, dass die Servicequalität und das Produkt stimmen müssen.
Man nutzt im Circus noch zu wenig Kommunikationswege und orientiert sich zu wenig an Wettbewerbern aus der Unterhaltungsbranche, wie diese um das Freizeitbudget der Bürger buhlen. Im Konzert-, Musical- und Sportbereich kennt man keine Freikarten. Circusse setzen immer noch, z. B. auf den Webseiten, fast ausschließlich auf Information – a la wir haben einhundert Wagen, vier Masten usw. -, Dienstleistung – Tickets hier direkt ordern – findet nur am Rande statt. In diesen Bereichen besteht großer Nachholbedarf. Ich bin weit weg davon zu glauben, dass es gut gemachten Circus – unabhängig von evtl. kommenden gesetzlichen Regelungen – in absehbarer Zukunft nicht mehr geben wird. Man muss allerdings auch akzeptieren, dass es stärkere Differenzierung von Inhalten geben wird und der klassische Circus nur eine Form unter mehreren ist. Früher gab es ein Telefon, schwarz mit Wählscheibe. Heute beherrscht eine enorme Vielfalt dieses Segment, dass wird im Circus nicht anders sein. In Zukunft wird man sich noch stärker auf die Inhalte, auf die Show konzentrieren müssen. Das muss einfach gut gemacht sein. Das Drumherum verliert an Bedeutung. Die Show muss und wird mehr im Mittelpunkt stehen, da die Menschen eine unglaubliche Fülle an Auswahlmöglichkeit für die tägliche Freizeitgestaltung haben.
Circus-online: Sie sind nun seit vielen Jahren mit dem Circus auf der Reise, haben seinerzeit eine völlig fremde Welt betreten. Sehen Sie ihren weiteren beruflichen Weg  auf den Circus fixiert, oder können Sie sich vorstellen noch einmal neue Wege ein zu schlagen?
Holger Fischer: Das kann ich mir durchaus vorstellen. Den Spruch vom durchgelaufenen Paar Schuhe kann ich für mich nicht bestätigen. Ich bin mit meiner Situation hier, dem Umfeld und meiner Arbeit sehr zufrieden und fühle mich absolut wohl,  Andererseits reizen mich auch andere Dinge, ich bin vielseitig an unterschiedlichsten Themen interessiert. Natürlich hat man im Verlauf vieler Jahre eine brancheninterne Kompetenz aufgebaut, die viele Abläufe leichter macht. Dies fällt bei einem Wechsel in eine andere Welt weg, lässt einen dort man wieder bei Null anfangen und macht es schwieriger, sich gegen jüngere Brancheninterne zu behaupten. Ab einem gewissen Alter  wirkt es teilweise auch ein wenig lächerlich, wenn man sich gegen Fünfundzwanzigjährige Branchenkenner abstrampelt, aber prinzipiell wäre dies für mich kein Hinderungsgrund. Nach vierzehn Jahren in der Branche ist das Sabbatjahr durchaus abgearbeitet.
Wir bedanken uns  herzlichst bei Herrn Fischer für das äußerst interessante Gespräch und die Einblicke, die uns gewährt wurden.
optimiert